1991
Plakat
Plakatmotiv 1991
Texte
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ...
Langsam, Tag für Tag, neigt sich das Jahr 1991 dem Ende zu, beginnt ein neues.
Dieses Jahr hat es in sich, sowohl im großen wie auch in meinem kleinen überschaubaren
Bereich.
Bei allem, was sich ereignete: immer wieder das oft ungläubige Kopfschütteln,
auch Trauer über soviel unfassbares.
Meine Haare sind grauer geworden, dies sagt mir nicht nur ein Blick in den Spiegel. Je älter ich werde, umso mehr habe ich den Eindruck, dass die Zeit schneller vergeht. Und plötzlich stelle ich fest: manches ist nicht mehr zu ändern. Dinge sind nicht mehr nachzuholen, Gespräche nicht mehr zu führen.
Meine immer dicker werdende Kalendersammlung, in der ich am Jahresende häufig blättere, weist mich auf Namen, Begebenheiten, Tatbestände und Verabredungen hin; der Inhalt summiert sich zu einem zunehmend undefinierbareren Erinnerungsgebilde, in dem Erfahrungen, Bilder und Jahre miteinander verschmelzen.
Mit einem mal wird mir klar, was meine persönliche Altlast darstellt, von der ich mich (ehrlicherweise) nicht entsorgen kann. Gut, das ich alle Kalender der letzten Jahre aufbewahrt habe ...
So befinde ich mich in diesen Tagen auf der „Suche nach der verlorenen Zeit“, wie Marcel Proust es ausgedrückt hat. „Verloren“ meint hier allerdings „vergangen“.
Ich forsche nach, werde zum Suchenden und auch fündig. (So entstand die Idee für den diesjährigen Gottesdienst am Heiligen Abend.
War hier nicht jemand, der schon lange auf ein Zeichen gewartet hatte ? Und was war mit ihr, die, inzwischen älter und weiser geworden, so manches anders sah und jetzt verstand ? Plötzlich sind verdrängte Erinnerungen wieder gegenwärtig und müssen bearbeitet werden. Es reicht nicht, in den Süden zu reisen, wenn das Innere nicht mitfährt oder sich zuzutrinken, wenn die Ernüchterung neue Schmerzen verursacht.
Gerade an oder wegen Weihnachten.
Sich auf die Suche zu begeben, nicht davonzulaufen oder in den Schlaf zu weinen, ist heilsam, kann sogar gesund machen und mehr sein, als sich einfach „Gesundheit“ zu wünschen.
An Heiligen Abend dieses Jahres könnte es so geschehen, vielleicht besonders
deshalb, will seit
Jahren nicht mehr geschehen ist ...
Und schon gar nicht an diesem Abend.
Ich freue mich, wenn sie am 24. Dezember 1991 nach Hergershausen kommen und
sich gemeinsam mit uns auf die Suche nach der „verlorenen Zeit“ begeben.
Wäre es nicht möglich, dass wir gerade in diesen Tagen solche Nächte
brauchen ?
Predigt
Petra hat ihre Prüfung bestanden, Georg seinen Arbeitsplatz verloren;
Frau Schneider hat sich das Leben genommen; Thomas befindet sich auf dem Weg
der Besserung; Marianne ist ohne Angabe von Gründen ausgezogen; Schulzes
haben gebaut; bei Frau M. hat man Krebs festgestellt; Sybille hat ein Kind
bekommen; Borussia Dortmund ist Wintermeister; die Sowjetunion hat zu existieren
aufgehört; die Kurden bleiben Vertriebene.
Die Zeit, gedacht in Auswahl vom Kleinen ins Große hinein.
Die Zeit vergeht, banal, das festzustellen.
Früher, ja, früher, wann war das eigentlich?
War das eigentlich wahr, das Früher ?
Liebe Freundinnen und Freunde,
Da sitzt man in diesen Tagen, vielleicht kopfschüttelnd und sagt: Kinder,
wie die Zeit vergeht.
Sitzt da und kanns nicht fassen.
Weihnachten schon wieder Weihnachten.
Mancher wünschte sich, dass es noch einmal ein Weihnachten gäbe wir
1943, „da war die Kameradschaft noch Kameradschaft“. Oder wie 1989: „da
wusste man noch: wie sind das Volk“. Oder 1976, „da war die Familie
noch zusammen“.
Oder 1962, „da sang man noch Stille Nacht in der Kirche und sonst nirgends
wo“. Oder sagt: „Ja, als ich noch ein Kind war, da freute ich mich
auf den Heiligen Abend mit all seinen Geheimnissen und so, aber jetzt, alles
vorbei“. Die Zeiten: „Manchmal, sagt einer, möchte ich Ewig-Gestrig
sein, zumindest an Weihnachten“.
Plötzlich, ehe man sich versieht, ist man auf der Suche nach der „verlorenen
Zeit“. Die gibt es, die verlorene Zeit, die, die schlichtweg verloren
ist, weil man auf die Idee kam, sie tot zu schlagen oder sie nicht zu nutzen.
Carpe Diem: nutze den Tag, das Wort des Lehrers aus dem Film: „Club
der toten Dichter“ werde ich nicht mehr vergessen. Nutze den Tag: schon
die Römer wussten, wie das gemeint war.
Schön, liebe Freunde, wäre es, wenn Weihnachten einfach wäre:
Wenn allein die alte Geschichte im Mittelpunkt stünde, die von Bethlehem,
wo die zeit erfüllt schien und der Heiland, der, der heil macht, endlich
geboren wurde.
Wo die Engel sich freuten und jedermann davon hörte.
Schade, dass es nicht mehr so einfach ist und die Geschichte und nicht nur
die ihren Glanz verloren hat.
Glanz, den gibt es nur noch auf Weihnachtsmärkten und zwar so unecht,
dass der künstliche Glamour nicht mal an diesen Tagen erhalten bleibt.
Wenn Weihnachten nur einfach wäre ...
Dann wären wir vielleicht gar nicht hier.
Dann würde wir die bereits abgelaufene Zeit unseres Lebens ganz anders
beurteilen, würden sie womöglich als zeit in Gottes Händen sehen
...
Wer weiß, wer weiß ...
Die Zeit vergeht, wie bei der Sanduhr rinnt sie unaufhörlich dahin, kein
Goethewort: verweile doch, du bist so schön, kann nur eine Stunde davon
aufhalten.
Die Zeit, sie läuft im Sauseschritt und wir, wir kommen kaum noch mit.
Welchen Sinn, so fragen wir uns manchmal, macht es, zu schaufeln und scheffeln
mit der Gewissheit, eines Tages der eigenen Zeit und dem Haben keine Sekunde
und kein Gramm hinzufügen zu können.
Vielmehr alles einfach aus der Hand zu legen, dahinfahren zu lassen ?
„Als ich Kind war, wollte ich Jugendlicher werden; als ich Jugendlicher
war, wollte ich Mann werden; als ich Mann war; wollte ich Vater werden; als ich
Vater war, wollte ich jung bleiben; als ich älter wurde, begriff ich, dass
meine Zeit ablaufen würde und begab mich in die Vergangenheit, um mich mit
meiner Gegenwart auseinander zu setzten und meine Zukunft verstehen zu können“.
Beim Betrachten der Zeit spielen auch Sternzeichen eine Rolle.
Es ist für mich erstaunlich, wie viele Menschen von ihrem Horoskop eine
Weisung für den Tag oder den Monat erwarten. Die meisten von ihnen äußern
zwar, dass sie sich weder darauf verlassen noch sprechen sie ihm entscheidende
Bedeutung zu, kommen aber dennoch nicht umhin, immer wieder darin zu lesen.
Mehr noch, auch wenn es zumeist nicht zugegeben wird: Man glaubt an eine relative
Wahrheit der Voraussage, geht von vorhergesagtem Glück oder Unglück
aus, lässt sich positiv oder negativ, zumindest unterbewusst beeinflussen.
Manche sind Freitags, den 13. vorsichtig mit Vertragsabschlüssen, achten
auf die Straße, wenn eine schwarze Katze von links nach rechts wechseln
und erwarten, wenn es schon im Horoskop steht, eine neue Liebe heute Nacht.
Immer mehr geben zu, abergläubig zu sein.
Warum sind sie denn nicht gläubig ?
Eine Befragung in den Tagen vor Weihnachten machte deutlich: nur noch für
14 %ist Weihnachten ein Fest des Glaubens. Sollte es im Umkehrschluss für
die restlichen ein Fest des Nicht-Glaubens sein ?
Ein Fest der Nicht-Erwartung.
Dann wäre vergeblich, was mit der Geburt des Mannes Jesu angefangen hat
und schon viel früher angekündigt wurde: Ein neuer Zweig wird aus
einer alter Wurzel treiben, der Anfang eines neuen Baumes sein. (vgl.Jesaja
11).
Ein neuer Zweig wird aus einer abgeschlagenen Wurzel aufgehen, neues Holz
wird aus altem Holz austreiben, langsam, vorsichtig und doch stetig wachsend
und sich zu einem vollständigen Zweig, Ast, vielleicht Baum entwickeln;
einem, der alles Leben in seiner Fülle in sich birgt.
Das kann sich aus unserem Leben entwickeln, gerade dann, wenn alles wie abgestorben,
ausgetrocknet oder abgebrochen erscheint.
Noch anders gesagt: Auch wenn wir nicht die absoluten Herren über unsere
Zeit sind, weil unsere Zeit fremdbestimmt und verkäuflich ist, weil wir
eben leben müssen, bleibt sie dennoch im einem ganz bestimmten Rahmen
frei und verfügbar.
Zeit ist nicht Geld, Zeit ist Leben ..
Durch dieses Weihnachtsfest kann es geschehen, dass wir unsere Zeit als geschenkte
Zeit verstehen lernen und die Gewichte neu verteilen.
In der Mitte der Nacht liegt der Anfang eines neuen Tages, so heißt das
Lied, das wir gleich singen werden.
Wenn wir begreifen oder besser; wenn wir uns ergreifen lassen von dem, was
in jener Nacht in Bethlehem geschehen ist und heute Nacht hier und an vielen
Orten dieser Welt geschieht, dass nämlich Menschen wirklich die Zeichen
der Zeit erkennen und ihr Leben ändern, denn ist die Mitte der Nacht auch
der erste von meinem neuen Leben, in dem andere Kategorien zählen.
Es ist Unsinn, sagt die Vernunft. Es ist, was es ist, sagt die Liebe. Es ist
Unglück, sagt die Berechnung. Es ist nicht als Schmerz, sagt die Angst.
Es ist aussichtslos, sagt die Einsicht. Es ist, was es ist, sagt die Liebe.
Es ist lächerlich, sagt der Stolz. Es ist leichtsinnig, sagt die Vorsicht.
Es ist unmöglich sagt die Erfahrung. Es ist, was es ist, sagt die Liebe.
Es ist ... Weihnachten.
Zugegeben: der letzte Satz stammt nicht von Erich Fried, aber in diesem Zusammenhang
muss es wirklich gesagt werden. Ob wir uns dabei auf die Suche nach der verlorenen
Zeit begeben und fündig geworden sind oder auch nicht: an Weihnachten
darf es immer nur um eines gehen – sowohl bei uns hier, wie auch in La
Paz, Kiew, Addis Abeba: um die Liebe und um den Menschen mit allem, was um
ihn lebt und webt.
Es kann mir sagen, was er will,
es kann mir singen, was er´s meint
und mir erklären, was er muss,
und mir begründen, wie er´s braucht.
Ich setze auf die Liebe ! Schluss.
Gott schütze Euch.
Meditation
Lebensringe – Lebenslinien
In der Hand – eine Baumscheibe
geschnitten aus dem Ast, dem Stamm,
ein Stück aus unserem Wald,
ein Teil des Sturmschadens des vorletzten Jahres.
Lebensringe legen sich um die Mitte,
aus der Mitte entfaltet sich Leben,
jedes Jahr ein neuer Ring,
jedes Jahr in Sonne und Hitze,
in Kälte und Sturm,
jedes Jahr eine Zeitansage,
abzulesen in meiner Hand.
So begreife ich die Zeit,
meine Vergangenheit wie eine Baumscheibe –
Lebensringe in Lebenslinien eingebettet,
Schöpfung gezeichnet in Baum und Hand,
bewahrt und geborgen –
oder fallengelassen.
So betrachte ich mich und hoffe,
dass mit die Schöpfung nicht aus der Hand gleite,
ich der Hand Gottes nicht entgleite,
ich Ruhe find und Kraft schöpfe aus dieser Weihnacht.
Ich begreife ,
und lasse ergreifen.
Ich habe mich aufgemacht auf die Suche nach der vergangenen Zeit
und ich erinnere mich ....
- Stille -