EKHN und Gütersloher Verlagshaus legen kritische Gesamtausgabe der berühmten Kanzelreden des NS-Widerstandspfarrers und späteren EKHN-Kirchenpräsidenten vor
45 Predigten von Martin Niemöller erstmals veröffentlicht
23.03.2011 krebs Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Auf der Kanzel steht Martin Niemöller und predigt gegen das Unrecht des NS-Regimes. Unten in den überfüllten Reihen sitzen die NS-Spitzel und auch Barbara Loewenberg. Die junge Konfirmandin jüdischer Abstammung stenografiert die Worte ihres Pfarrers eifrig mit. Niemöller wird durch seine unerschrockenen Predigten zu einer der Führungspersönlichkeiten des evangelischen Widerstands, später nicht zuletzt deshalb persönlicher Gefangener Hitlers. 1947 wurde er erster Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). Barbara Löwenberg nimmt ihre Aufzeichnungen mit ins Exil nach London. Sie bleiben erhalten und werden 2005 der EKHN übergeben, während die Originalmanuskripte Niemöllers nach seiner Verhaftung im Juli 1937 verschwinden. Weitere Predigten werden noch in der NS-Zeit international verbreitet, übersetzt und begründen Niemöllers internationalen Ruf als herausragenden evangelischen Prediger, der seine Gemeinde darin bestärkt, den eigenen Glauben gegen das NS-Regime zu bekennen und zu verteidigen – vorbildhaft bis heute.
Der Fund der bislang unveröffentlichten Predigtmitschriften waren der EKHN und dem Gütersloher Verlagshaus Anlass genug, alle 128 derzeit bekannten Predigten und predigtähnlichen Texte unter dem Titel „Martin Niemöller. Dahlemer Predigten“ in einer kritischen Gesamtausgabe vorzustellen. Darin werden 45 Predigten erstmals veröffentlicht. Die Publikation wurde am Freitag am Ort des damaligen Geschehens in Berlin-Dahlem – mittlerweile offizieller Erinnerungsort unter dem Motto „Widerstand lernen“ – vorgestellt. Der 736 Seiten starke Band kann nun im Buchhandel für 78 Euro erworben werden.
Die von Pfarrer Privatdozent Dr. Michael Heymel vom Zentralarchiv der EKHN bearbeitete und herausgegebene Edition leistet einen wichtigen Beitrag zur Dokumentation des kirchlichen Widerstandes während der NS-Zeit. Die Edition soll nach dem Willen des Gütersloher Verlagshauses dazu beitragen, die historische Erinnerung wach zu halten und als Herausforderung für die Gegenwart begreifbar zu machen.
Niemöller International
Die vorgestellte Edition umfasst auch die Vorworte früherer ausländischer Publikationen, so dass die Editions- und Wirkungsgeschichte der Predigten nachvollziehbar wird. Niemöllers internationale Wirkung wurde nur möglich, weil unerschrockene Menschen sie teilweise unter Lebensgefahr verbreiteten. An einige von ihnen wurde in der Veranstaltung erinnert. Die Niederländerin Hebe Kohlbrugge hatte Predigten von Martin Niemöller im Jahr 1938 unter brandenburgischen Pfarrern der Bekennenden Kirche illegal verteilt und war im Anschluss daran von der Gestapo inhaftiert worden. Der damalige dänische Bischof Dr. Hans Fuglsang-Damgaard, der den Nationalsozialismus offen ablehnte, hatte für die Verbreitung der Predigten Niemöllers in Dänemark gesorgt. Der Publizist Peter de Hemmer Gudme hatte sie dafür ins Dänische übersetzt. Er kam später in Gestapo-Haft, wo er sich das Leben nahm. Pfarrer Aert Gerard Barkey Wolf hatte die Predigten ins Niederländische übersetzt. Der Band dokumentiert auch das Vorwort von Thomas Mann für eine amerikanische Predigtausgabe im Jahr 1941.
Zu den Gästen der feierlichen Buchpräsentation gehörten etliche Angehörige Martin Niemöllers, darunter auch die Söhne Dr. Heinz Hermann und Martin Niemöller. Kirchenpräsident Dr. Volker Jung, der Präses der Synode Dr. Ulrich Oelschläger und Kirchenarchivdirektor Holger Bogs repräsentierten die EKHN. Bischof Dr. Markus Dröge vertrat die gastgebende Evangelische Kirche von Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Als Zeitzeuge war auch Pfarrer i.R. Rudolf Weckerling vor Ort. Der 99-Jährige war in der NS-Zeit als Pfarrer der Bekennenden Kirche aktiv gewesen und lebt heute in Berlin-Dahlem.
Niemöller – eine bleibende Herausforderung
In seinem Grußwort betonte Kirchenpräsident Jung, dass dieses „ganz besondere Buch“ „das Bild von Martin Niemöller als Theologen und prägende Gestalt der Geschichte der EKHN noch deutlicher“ mache. Person und Lebenswerk Niemöllers seien eine bleibende Herausforderung und sein Name sei in heutigen Synodaldebatten noch immer „unglaublich präsent“. Angesichts der aktuellen Ereignisse im japanischen Atomkraftwerk Fukushima überlegte Jung, was Niemöller wohl dazu sagen würde. Jung kam zu dem Schluss, dass Niemöller auf „unsere schuldhafte Verstrickung durch eine unverantwortliche Energiepolitik und auf die nötige Umkehr zu einem schöpfungsgemäßen Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen hinweisen würde, jedoch nicht ohne an die Kraft des Wortes Gottes zu erinnern“.
Von Niemöller lernen heißt widerständig leben lernen
Als Gastgeberin stellt die heutige Dahlemer Pfarrerin Marion Gardei die Aufgabe heraus, für junge Menschen die Erinnerung an die Bekennende Kirche wach zu halten und ihnen zu vermitteln, mit offenen Augen und Ohren durchs Leben zu gehen, um in bestimmten Situationen „Nein“ sagen und auch „widerständig“ leben zu können. Erinnerungsorte der NS-Zeit würden mehr und mehr an Bedeutung gewinnen, so Gardei, da es bald keine Zeitzeugen mehr gebe, die Auskunft über diese Zeit geben könnten.
Der Bruder von Barbara Loewenberg hatte die handschriftlichen Manuskripte nach dem Tod seiner Schwester Niemöllers Sohn Heinz Hermann Niemöller übergeben. Dieser hatte sie mit der Schreibmaschine abgetippt, „um sich deren Inhalt intensiver anzueignen“. Beides hatte er dann 2005 dem Zentralarchiv der EKHN, das den Nachlass Martin Niemöllers verwahrt, übergeben und damit den Grundstock für die vorliegende Publikation gelegt.
Verantwortlich: Pfarrer Stephan Krebs, Pressesprecher