10 Jahre Modell-Projekt
Hund Felix hilft jede Woche Behinderten
Andrea Seeger/Evangelische Sonntags-Zeitung23.08.2013 esz Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Andrea SeegerHund Felix und Elke Eimer sind jede Woche in der Tagesstätte im Einsatz.„Das ist der Willi. Er hat sich gerade in Adele verliebt.“ So oder so ähnlich beginnt Pfarrer Armin Gissel seine Vorträge. Und die hält er oft und gerne. Sein Thema: die Tagesstätte für ältere Menschen mit Behinderung in Gießen. Das ist sein Baby, eigentlich sein Kind, denn die Tagesstätte feiert jetzt zehnjähriges Bestehen. Das Modellprojekt ist einzigartig in Hessen, Fachleute aus anderen Bundesländern kommen des Öfteren zu Besuch.
Auch behinderte Menschen werden älter und gehen in den Ruhestand. Und was dann? Gemeinsam mit der Lebenshilfe, der Arbeiterwohlfahrt, der Caritas und der Diakonie hat das Dekanat Gießen, insbesondere Pfarrer Armin Gissel, vor zehn Jahren das Konzept entwickelt: eine Tagesstätte für ältere Menschen mit Behinderung.
Wie kann ein Behinderter ein normaler Rentner werden?
Es ist ja im Prinzip eine neue Geschichte, der Ruhestand von Menschen mit Behinderung. Einige von ihnen haben die Nazizeit überlebt, die meisten sind nach Ende des Zweiten Weltkriegs geboren. Die Lebenserwartung von Menschen mit und ohne Behinderung nähert sich immer mehr an und wird in absehbarer Zeit keine wesentlichen Unterschiede mehr aufweisen. Aber was geschieht mit behinderten Senioren, wenn sie nun in den Ruhestand wechseln?
Armin Gissel stellte sich viele Fragen, seit er vor fast zwei Jahrzehnten angefangen hat, in der Evangelischen Behindertenseelsorge Gießen zu arbeiten. Wie können die Senioren ihr Leben aktiv neu gestalten, ohne die tägliche Arbeit in der Werkstatt für behinderte Menschen? Was soll der neue Lebensabschnitt bringen, damit sie normal, wie ein Rentner ohne Behinderung auch, leben und sich wohlfühlen können? Dürfen alte Menschen mit Behinderung auch aktiv lernen? Haben sie überhaupt Interesse, Neues zu entdecken, Dinge zu lernen, die sie bisher nicht kannten?
Recht auf Teilhabe ist Bürgerrecht
Um Antworten auf diese Fragen zu bekommen, hat er viel gelesen, war auf Kongressen, hat sich ins Thema eingearbeitet und hat vor allem seine Lehren aus der Praxis gezogen. Resultat: Das Recht auf Teilhabe ist ein Bürgerrecht. Es gilt für alle Menschen. Dieses Recht beinhaltet Leben in verschiedenen Milieus. „Ich will ja auch nicht im Ruhestand Tag und Nacht mit meiner Frau verbringen“, erklärt Gissel, „obwohl ich sie sehr liebe.“
Die Billigvariante – behinderten Senioren werden dort betreut werden, wo sie wohnen – lehnt der Pfarrer komplett ab. „Das hat für mich viel mit Würde zu tun“, sagt Gissel. „Menschen mit Behinderung sind immer rausgekommen, in ihre Werkstatt zum Arbeiten. Dann fällt der Platz dort plötzlich weg und sie sind auf sich gestellt in ihrem Zimmer, ihrer Wohnung, ohne die bisherigen Kontakte.“ So ginge das nicht. Zum Recht auf Teilhabe komme das Recht auf so viel Normalität wie möglich und das Recht auf Autonomie, ergänzt er.
„Mein Bub geht doch in keinen Altenkreis!“
Die Tagesstätte liegt mitten in Gießen, an der Südanlage, direkt gegenüber der Johanneskirche. Die Fußgängerzone ist fünf Minuten entfernt. 30 Personen verteilen sich auf 15 Plätze, manche sind einmal in der Woche da, andere kommen jeden Tag. Bei den oftmals sehr alten Eltern der Besucher müssten sie ihre Überzeugungsarbeit intensivieren, sie in die Tagesstätte einladen, damit sie sich selbst ein Bild von der Arbeit machen könnten, sagt Gissel. Denn die hätten oft Bedenken, etwa der Art: „Mein Bub geht doch in keinen Altenkreis!“
Rationale Argumente wie das, dass der „Bub“ 63 Jahre alt sei, zögen oft nicht. Hinzu käme das Problem mit dem Geld. „In der Werkstatt bekommt mein Sohn Taschengeld, bei euch gibt's nichts!“ Wenn das Taschengeld wichtiger sei als die Bedürfnisse des behinderten alten Menschen selbst, stoße die Argumentation der Mitarbeitenden der Tagesstätte auf taube Ohren. Dagegen könne man dann nichts machen. Die Zusammenarbeit mit den Wohn- und Werkstätten dagegen sei in der Regel sehr gut.
Hund Felix kommt jeden Dienstag
Der jüngste Besucher der Tagesstätte ist etwas über 50, der älteste an die 80. Sie kommen aus dem ganzen Landkreis, werden mit Bussen gebracht. So wie Renate Topol. „Ich komme zwei Mal in der Woche, montags und dienstags“, erzählt sie und strahlt. Verbindlichkeit und Regelmäßigkeit sind zwei ganz wichtige Pfeiler der Arbeit. Renate Topol ist eine der wenigen, die alleine lebt in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. „25 Jahre lang habe ich Schrauben gezählt“, berichtet sie, jetzt mache sie das nicht mehr.
Langweilig sei ihr nicht, sie habe ja die Freunde hier in der Tagesstätte, alle zwei Woche gehe sie schwimmen und sie turne regelmäßig. „Am liebsten spiele ich Rommé“, verrät sie. „Und im Halma hast du mich schon geschlagen“, sagt die ehrenamtliche Betreuerin Elke Eimer. Sie kommt immer dienstags – seit acht Jahren. „Ich wollte im Ruhestand etwas Sinnvolles tun“, sagt sie. Weil sie Armin Gissel kannte, hat sie sich für diese Einrichtung entschieden. Sie kommt mit Felix, einem Mischling aus dem Tierheim.
Zwölf Ehrenamtliche begleiten die Senioren intensiv
„Er hat gelernt, mit dem Rollstuhl zu laufen“, sagt sein Frauchen. Mit Wally oder Gaby gehe es dann zum Eisessen in die Fußgängerzone. Der Hund kommt gut an bei den Besuchern der Tagesstätte, sie streicheln ihn, verteilen Leckerlis. Er genießt sichtlich die Aufmerksamkeit. Kurt hat sich etwas absentiert, er sitzt auf dem Balkon und raucht. Der ältere Herr kommt jeden Tag und braucht immer mal seine Auszeiten. Das ist hier im Haus kein Problem, alle Zimmer sind liebevoll gestaltet, es gibt größere und kleinere, wer allein sein möchte, bekommt dazu Gelegenheit.
Es herrscht eine behagliche Atmosphäre, zwölf Ehrenamtliche ermöglichen es, dass die Senioren sehr intensiv begleitet werden können. „Viele arbeiten schon lange, lange Zeit hier mit“, sagt Gissel. „Der am längsten tätige Ehrenamtliche hat mit mir angefangen, als Zivildienstleistender. Jetzt ist er Konrektor einer Schule und bringt seine Kinder mit.“ Die Seele des Hauses sei Kornelia Marschner.
Stets auf der Suche nach Sponsoren
Gissel sagt, er sei eher der Kopf. Er wird nicht müde, Sponsoren zu suchen. Ein Beispiel sind die „Drei Stimmen“, die jedes Jahr Benefizkonzerte für die Tagesstätte geben, zum Beispiel die Pankratiuskonzerte in der Adventszeit.
Er lädt Kirchenvorstände ein, bei ihnen im Haus an der Südanlage ihre Sitzungen abzuhalten. Dann aber bittet er um die erste halbe Stunde, damit er die Arbeit der Tagesstätte vorstellen kann. Auch besucht er mit Behinderten öfter Gottesdienste. „Wir sind relativ bekannt in den Kirchengemeinden, wir tun auch viel dafür“, sagt Gissel. Sie alle dort sind darauf angewiesen, dass sie unterstützt werden, das weiß er sehr wohl.
Von Andrea Seeger
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