Interview mit Politologe Samuel Salzborn
"Antisemitismus" und "Rassismus" erklärt
Anja ThieleSamuel Salzborn von der Justus-Liebig-Universität in Gießen24.02.2020 ste Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Warum bleibt der Anteil der Menschen mit judenfeindlicher Einstellung an der Bevölkerung seit Jahrzehnten nahezu gleich, trotz aller politischen Bildung?
SAMUEL SALZBORN: Das hat damit zu tun, dass wir eine Tradierung von Antisemitismus in den Familien haben. Die allermeisten Deutschen haben nicht das geringste Wissen darüber, was ihre Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern im Nationalsozialismus konkret getan haben. Einerseits identifiziert man sich positiv mit seiner Familie, andererseits ahnt man aber durch die öffentliche Auseinandersetzung, dass diese Täterinnen und Täter ja irgendwer gewesen sein müssen. Aber die Fragen, was der Opa vielleicht gemacht hat, ob er nur Zustimmung zum Regime geäußert hat oder ob er handgreiflicher Täter war, werden dennoch vermieden. Man möchte den Familienfrieden nicht antasten und übernimmt dann die antisemitische Schuldabwehr. In der gesamten Geschichte der deutschen Öffentlichkeit hat nie jemand ernsthaft gefordert, dass diese Fragen in den Familien diskutiert werden. Das sind Wege, die sicherlich schmerzhaft sind. Aber ich glaube, wenn wir die nicht gehen, dann werden wir die Grundlagen von Antisemitismus nicht angreifen können.
Ist Rassismus und Antisemitismus dasselbe?
SALZBORN: Historisch sind beide eng verbunden, aber es gibt Unterschiede. Der Antisemitismus ist dadurch entstanden, dass sich der christliche Antijudaismus mit völkischen Gedanken verbunden hat. Man darf nicht vergessen: Der Glaube an Rassen ist hochgradig irrational. Wissenschaftlich ist klar, dass es keine Menschenrassen gibt. Aber wenn man daran glaubt, dann hängt es davon ab, wer die Macht hat, zu definieren, wer zu einer bestimmten Rasse gehöre. Und genau das haben Antisemiten immer für sich in Anspruch genommen. Im Unterschied zum Rassismus, der auf punktuellen Vorurteilen aufbaut, ist Antisemitismus aber ein umfassendes Weltbild. Das heißt, dass Antisemiten alles, was sie an der modernen Welt nicht verstehen oder ablehnen, antisemitisch deuten. Im Unterschied zu anderen Diskriminierungsformen erscheinen Juden im Antisemitismus zudem immer als schwach und mächtig zugleich.
Häufig hört man die Unterstellung, man dürfe Israel nicht kritisieren, ohne als Antisemit zu gelten. Wie lässt sich denn Judenfeindlichkeit erkennen und von legitimer Kritik abgrenzen?
SALZBORN: Diese Unterstellung ist frei erfunden. Das Interesse an Israel in den Medien ist gigantisch groß, und das allermeiste, was – auch kritisch – über Israel berichtet wird, bezeichnet niemand als antisemitisch. Wenn jemand behauptet, dass Kritik generell als antisemitisch gelte, dann schickt er das oft vorweg, um sich anschließend tatsächlich antisemitisch zu äußern. Man baut da einen argumentativen Pappkameraden auf. Die Kriterien, die legitime Kritik von Antisemitismus unterscheiden, sind klar und leicht nachzuvollziehen. Es sind die drei D: Delegitimierung, Dämonisierung, Doppelstandards. Delegitimierung heißt, dass Israel das Existenzrecht abgesprochen wird, Dämonisierung meint beispielsweise Vergleiche von Israels Politik mit dem Nationalsozialismus und bei Doppelstandards schaut man auf Israels Politik anders als auf die anderer Akteure. Das findet sich gerade im linken Antisemitismus immer wieder, der traditionell propalästinensisch ist und kaum Probleme mit dem Terrorismus der palästinensischen Bewegung hat.
Im März erscheint Samuel Salzborns Buch »Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern«; Verlag Hentrich & Hentrich 2020; 140 Seiten; 15 Euro.
[Nils Sandrisser]