Interview
Wie viel Angst ist normal?
Jax71/istockphoto.com21.02.2014 sto Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
privatPsychologin Jutta Lutzi hilft den Menschen ihre Ängste zu überwinden.Mit welchen Problemen kommen die Menschen zu Ihnen?
Jutta Lutzi: Es kommt natürlich niemand in die Beratung, um sich mit realen Ängsten im eigentlichen Sinne auseinanderzusetzen. Meistens geht es um Ängste, für die die Menschen keine rechte Erklärung finden. Das sind dann sogenannte neurotische Ängste. Zum Beispiel, wenn Menschen Höhenangst, Angst vor geschlossenen Räumen oder vor bestimmten Tieren haben – ohne, dass es dafür eine logische Erklärung gibt. Zum Beispiel, ist Höhenangst bei einer brüchigen Brücke mit einem tiefen Abgrund darunter logisch nachvollziehbar. Hat jemand bei einem gut gesicherten Überweg panische Angst, deutet das auf einen neurotischen Konflikt hin.
Damit ist das Angstgefühl nicht mehr sinnvoll im Blick auf die äußeren Umstände. Wir in der Beratung prüfen, wofür dieser äußere Anlass steht. Er mag von außen betrachtet keinen Sinn haben, aber im Inneren schon. Welchen, ist dann ein Stück beraterische therapeutische Arbeit.
Muss ich als Mensch also meine Ängste hinterfragen?
Lutzi: Ja, wenn es eine Angst ist, für die Sie selber keinen rechten Grund finden. Vor allem, wenn Sie denken: Es behindert mich sehr. Zum Beispiel Menschen mit Höhenangst vermeiden oft Türme oder hohe Stockwerke. Aber wenn man es nicht vermeiden kann oder selber denkt: Das ist nicht normal. Das stört und behindert mich, dann kann man in die Beratung oder in die Psychotherapie gehen und versuchen, dem auf den Grund zu gehen. Wofür diese Angst steht, für welchen inneren Konflikt.
Ab wann ist eine Angst therapiebedürftig?
Lutzi: Die Meisten entscheiden sich dann dafür, wenn sie sich in ihrer Lebensführung behindert fühlen. Zum Beispiel: Die Angst vor Schlangen ist dann eine sinnvolle Angst, wenn Sie in einer Region voller Giftschlagen leben. Hier ist es wichtig zu wissen, wie geht man damit um und wie vermeide ich es der Schlange zu begegnen. Wenn Sie aber Angst vor Schlagen haben, ohne dass Sie groß mit ihnen in Berührung kommen, dann denken die wenigsten Menschen: Dafür gehe ich jetzt in eine Therapie. Im Allgemeinen kommen die Menschen erst, wenn sie sich sehr beeinträchtig fühlen.
Warum haben die Menschen überhaupt Angst?
Lutzi: Angst ist ein Gefühl, dass grundlegend zum Menschen dazugehört. Also ein Affekt, der sehr wichtig ist, denn er hat eine Signalfunktion. Angst warnt vor Gefahren. Ohne Angst hätte die Menschheit vermutlich nicht ohne weiteres überlebt.
Was für Gefahren machen Angst?
Lutzi: Es gibt zweierlei: Zum einen können das Gefahren sein, die im Außenbereich sind. Also in der Natur vorkommen oder von Mitmenschen ausgehen. Hiervor warnt das Angstgefühl.
Es gibt aber auch innere Gefahrenquellen. In der menschlichen Entwicklung lernt man: Wenn ich mich so oder so verhalte, dann habe ich unter Umständen Konsequenzen im sozialen Umfeld zu befürchten. Vielleicht gehen Freunde und Kontakte verloren, also hat da die Angst auch eine innere Signalfunktion. Sie warnt beispielsweise, wenn man etwas tun möchte, was soziale Konsequenzen haben kann. Die Angst als Signal ist ein ganz normaler und wichtiger Prozess und ein wichtiges Gefühl.
Vor was sollten die Menschen denn Angst haben?
Lutzi: Es gibt viele Gefahren in der Welt: Das fängt in der Natur an, beispielsweise während eines Gewitters nicht auf dem freien Feld herumzulaufen. Es gibt Mitmenschen, die eine Gefahr bedeuten können. Die Verletzungsgefahr, wenn ich zu schnell mit dem Auto fahre. Und viele mehr.
Sind Phobien dann völlig grundlos?
Lutzi: Nein. Auch eine neurotische Angst ist begründet – allerdings nicht durch äußere Faktoren, sondern durch innere. Der Grund dafür ist erst mal unklar, und das ist das Schwierige daran. Die Angst verschiebt sich auf einen äußeren Gegenstand, eine Situation oder ein Tier – und dann habe ich Angst davor. Aber die eigentliche Angstquelle liegt in inneren Konflikten, die zunächst nicht bewusst sind.
Was sind denn Ihre Tipps gegen Ängste?
Lutzi: Wenn Ihre Ängste so heftig sind, dass Sie sagen: „So kann ich nicht mehr gut leben“, dann ist die Therapie eine Möglichkeit damit umzugehen. Die meisten Menschen versuchen zunächst die Angst selber zu bewältigen. Beispielsweise, indem sie Angst-Situationen vermeiden oder sie konfrontativ angehen – je nachdem, was für eine Persönlichkeit jemand ist. Das sind alles Wege. Aber im Allgemeinen ist der Gang in die Beratungsstelle zum Psychotherapeuten dann angebracht.
Wann sollte ich mir denn professionelle Hilfe holen?
Lutzi: Die Linie geht da entlang, wo man sich klar werden sollte, ist es tatsächlich eine Angst, die mich vor einer begründeten Gefahr warnt. Oder wenn ich das Gefühl habe, ich habe Angst vor etwas und verstehe nicht warum. Wenn ich selbst den Eindruck habe: Irgendwie verstehe ich das nicht – dann ist es sinnvoll, sich fachliche Hilfe zu suchen.
Viele Menschen leiden heutzutage unter Verlustängsten…
Lutzi: Es gibt Verlustängste, die sind ganz angemessen. Beispielsweise in Zeiten von Entlassungen kann es sinnvoll sein, sich klar zu machen: Mein Job ist gefährdet und dann damit umzugehen. Zu überlegen, wie gehe ich vor, suche ich mir vielleicht eine andere Arbeitsstelle? Oder in einer Paarbeziehung, in der es viel Streit und Auseinandersetzungen gibt und wo man merkt, da stimmt etwas Grundlegendes nicht, ist natürlich eine Verlustangst ein angemessenes Gefühl.
Was anderes ist es aber, wenn meine Arbeitsstelle oder Beziehung nicht gefährdet sind, aber ich trotzdem ein heftiges Angstgefühl habe. Das wäre wieder ein Gefühl, dass man hinterfragen könnte.
Wie funktioniert die Beratung in der EKHN?
Lutzi: Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau hat gemeinsam mit dem Diakonischen Werk 16 Beratungsstellen. Die Träger sind zum Teil das Diakonische Werk, zum Teil sind das auch Vereine oder die evangelischen Dekanate. In den psychologischen Beratungsstellen werden Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatung angeboten.